Konzentriert und anschaulich

Gedanken zum Werk von Oliver Kruse von FRIEDHELM MENNEKES,
Kat. Oliver Kruse, Galerie Karsten Greve, Köln 2009

Aller Kreativität liegt eine Konzentration zugrunde, ein geistiger Prozess, der das Bewusstsein auf einen Punkt fokussiert. Dieser ist zunächst nichts Abstraktes, er hat dingliche Gestalt. Besonders der Künstler mobilisiert in diesem Prozess alle sinnlichen und geistigen Kräfte, um sie in seherischer Anspannung zu erfassen, egal ob er einen Baum in der Natur oder einen geometrischen Körper im Blick hat. Das gilt sowohl für die sinnliche Erscheinung – etwa in Höhe, Breite, Zustand – als auch für die Idee, die dahinter steht.

Hier gewinnt eine weitere Dimension an Bedeutung, die für den Künstler Oliver Kruse geradezu konstitutiv ist: der Raum. Dieser erschließt sich im Vollzug der Wahrnehmung. Im Akt des Sehens entsteht eine Beziehung zwischen dem Betrachter und dem Objekt, das er in seinen Blick nimmt. Sie steht dann vor ihm im Bewusstseinsraum und beginnt zwischen zwei Polen, des Sehens und des Gesehenwerdens. Dort lebt es im Zwischen einer dialektischen Beziehung, in Annäherung und in Distanzierung, d.h. in Bewegungen. Diese Gestalt im Raum erweckt alle möglichen Erkenntnisinteressen und Motivationen im Betrachter. Er will darin diesen Gegenstand als das erfassen, was er an sich und für das sehende Subjekt ist. An dieser Stelle erweist sich das eingangs bemühte Wort Konzentration als eine methodische und eine kritische Idee zugleich. Ihr ist eine Reflexivität eigen, und zwar die Integration des konkreten Sehens in den Gesamtbestand des Wissens und der Erfahrung. Darin wechselt die Konzentration zur Kontemplation, die in ihrem Kern aus einem konzentriert-beschaulichen Nachdenken besteht. Ihr Gegenstand ist die diskursiv-kritische Betrachtung der konzentrierten Wahrnehmung, denn die Kontemplation ist in ihrem Wesen eine kritische Selbststeuerung des Erkennens und des erkennenden Subjekts zugleich. Hier richtet sich das erkennende Ich auf das Letzte und Eine und Entscheidende und Wesentliche aus. Doch dieser Akt vollzieht sich im Raum, gleich ob es der Bewusstseinsraum, ein realer oder ein virtueller Raum ist.

Die Arbeit von Oliver Kruse steht im kunsthistorischen Feld der plastischen Abstraktion – etwa von Donald Judd, Carl Andre, Erwin Heerich und in der klassisch-modernen Architektur Louis I. Kahns. Seine Gestalten sind kubische, kugel- oder glockenförmige Volumina, Ellipsoide oder andere geometrische Körper. Sie existieren als Modelle, Architekturen, begehbare Skulpturen und Häuser. Ihre Materialien sind Holz, Karton, Kunststoff, Styropor, Feinzement, Beton oder Aluminium. Seine Werke sind international in Galerien, Museen, Ausstellungszentren oder Skulpturenparks zu sehen.

Die besondere Qualität seiner Kunst liegt in der Art und Weise ihres Entstehens. Oliver Kruse entwirft seine Arbeiten nicht am Zeichenbrett in zweidimensionalen Vorstellungen, um sie dann in einem zweiten Bewusstseins- und Schaffensprozess in die dritte Dimension umzubrechen oder zu verlängern. Er konstruiert keine Flächen, um sie anschließend in Körper zu überführen. Seine Formen und Gestalten sind Ergebnisse CAD-gestützter Entwicklungen. Ihren Ursprung haben sie im Virtuellen. Damit gilt dieser Künstler als ein führender Vertreter digitaler Methoden. Er entwirft seine Formen am, bzw. im Bildschirm. Sie werden virtuell und prozessual gewonnen, werden gedreht oder geschnitten, auf den Kopf oder schräg gestellt und in alle möglichen Stellungen transformiert. So zeigen sie sich immer wieder neu und leuchten in verschiedenen Perspektiven. Permanent verändern sie sich. Schließlich werden sie der Schwerkraft des realen Raums mit seinen physikalischen Gesetzen unterworfen. Damit fixiert sich ihre Endform. Es ist diese Dynamik, in der sie immer wieder neu bewegt werden, in der sie ihr unverwechselbares Eigensein, ja ihren Charme entfalten. Daher erweisen sie sich letztendlich als nicht konstruiert, sondern als etwas Lebendiges und Eigenes, das aus dem Spiel unendlicher Bewegungen in die Wirklichkeit gerufen ist. Hier liegt die besondere Eigenart der Skulpturen von Oliver Kruse. Der Ernst ihrer Identität entspringt einer spezifischen und reflektierten Konzentration. In ihrem Sein werden sie eher gefunden als geschaffen. Der Zufall ist ihr Pate; freilich in skeptisch-kreativer Dauerreflexion.

Diese geometrischen Körper stehen von Anfang an in ihrem Sein ungebrochen im Raum. Dort wachsen sie sozusagen unter kreativer Aufsicht heran. Werke wie Josephinenstrasse (2001), Zwischenraum (2004), Corner at Mipo (2007) oder Clench (2008) verdanken sich gerade in ihrer überraschenden Besonderheit diesem Bewegungsfluss und der Gestalt, in die hinein sie letztlich auslaufen. Oliver Kruse spricht zwar als Künstler demütig von gefundenen Formen, jedoch fügen sie sich keinem Vorbild. Sie entstammen einem Eigenleben, das schließlich durch die künstlerische Entscheidung in eine Gestalt aufgehoben wird. Dieser Prozess lässt sich in vielen Sequenzen von Computerausdrucken nachvollziehen und ansatzweise rekonstruieren. Zugleich löst er bei vielen Werken, die sich noch in der Entwicklung befinden, den Glocken etwa, eine hohe Erwartung aus; denn sie gewinnen weder ihre ersten noch ihre letzten Konturen in der Konstruktion, sondern im Spiel tänzerischer Drehungen, unentwegter Kontraktionen und utopischer Transformationen.

Oliver Kruse hat eine breite Ausbildung durchlaufen: Schreinerhandwerk, Bildhauerei und Architektur. Mit zunehmender künstlerischer Entfaltung wuchs seine Sensibilität für den Raum. Er weiß mit geradezu philosophischer Einfühlung um seine atmosphärischen und metaphysischen Qualitäten, die vom Idealismus bis zur Phänomenologie reichen. Sei es der Binnen- oder Zwischenraum, der Ort oder die Gegend, der euklidische oder der künstlerische Raum, der Denkraum oder der Sakralraum – für ihn gibt es keine Kunst ohne den Raum. Aus dieser Verankerung heraus gewinnt sein Schaffen eine anthropologische Konstante.

Alle Formen von Oliver Kruse sind auf den Menschen bezogen, aber nicht in statischen Dimensionen. Die entscheidende Quelle seines Lebens- und Erfahrungsbezugs zum Menschen liegt in dessen Bewegungen. Seine Skulpturen im Raum eröffnen selber Räume. Sie entwickeln sich im Umschreiten und Ergehen, in der Aura der Schwingungen, der Proportionen, der unerwarteten, verblüffenden Beziehungen. Letztere vor allem gewinnen ihre Lebendigkeit aus der Erfahrung des Lichts. Mit seiner Energie weiß es aus Interrelationen Interaktionen zu provozieren. Das Licht wird zum Schlüssel, der den Zugang zu Räumen voll erregender und atmosphärischer Kraft eröffnet.

Dennoch beruhigen diese Räume. Sie lagern im Bewährten. Mit alten Krügen oder koreanischen Schalen teilen sie die Qualität des Verdichtenden und Ursprünglichen. Auf wesentliche Grundformen reduziert, steht diese Kunst still, festgewurzelt, ausgewogen und darin wahr, maßvoll, leicht. Gleichzeitig haben diese Werke etwas Empfindsames, ja Verletzliches. Denn in ihren Körpern lassen sich auch diese Lebensdimensionen spüren. Sie entfalten sich in zaghaft vorsichtigen, erwartungsvollen wie staunenden, aufgeregten und liebebewegten Näherungen, mit der ein sensibler Betrachter ihre Weise zu sein zu einem persönlichen Reiz zu überführen vermag. Solch ein Umgang erweckt die im Werk lagernden Energien zu einem Reichtum von Blicken und Entdeckungen. Und die Möglichkeit dazu war von Anfang an in diesen geometrischen Körpern angelegt.

Oliver Kruse schafft Werke gefüllter Leere und – mit Augustinus – schweigender Musik. Inspiriert durch Tradition, leben sie aus einem künstlerischen Aufbruch und den technischen Innovationen unserer Tage. Obwohl modern – orientieren sie sich am Menschen, an seinen Wahrnehmungen und seiner Lust, sich für Neues zu öffnen, um es zu bestaunen und zu betrachten, ja ihm nachzuspüren. Sein Werk lebt aus der Spannung zwischen Neugier und ihrer Reflexion.