Skulptur und Bau

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Sculpture and Building

Anmerkungen zum Gebäude eines Bildhauers von EDELBERT KÖB,
Kat. Oliver Kruse, Kinder Insel Hombroich, Köln 2000

Kunst und Architektur (die Mutter aller Künste?) stehen seit jeher in einem wechselvollen Spannungsverhältnis von Annäherung und Abgrenzung. Das gegenwärtig gestörte Verhältnis beruht im wesentlichen auf Mißverständnissen weltanschaulicher Art. Tatsächlich steht nicht Kunst versus Architektur, sondern Gestaltungsideologien stehen gegeneinander. Oliver Kruses Kindergartengebäude im Komplex der Museumsinsel Hombroich scheint sich in diesem Diskurs vorläufig nicht zu exponieren, obwohl es klare Positionen bezieht. Von großer Selbstverständlichkeit, reduziert und funktionell könnte es ohne weiters als gelungenes Beispiel für die von Vittorio Lampugnani konstatierte »neue Einfachheit« der Architektur dienen. Seine genaue Analyse, wenn man in Betracht zieht, daß es sich um den Bau eines Bildhauers handelt, wirft aber interessante Fragen zum Verhältnis der Disziplinen Architektur und Kunst auf, die hier in der Folge angeschnitten werden. Stellvertretend für viele Künstler sagte der Künstlerarchitekt Max Bill: »Architektur ist keine Kunst«, stellvertretend für viele Architekturkünstler sagte Jaques Herzog: »Gute Architektur ist immer auch Kunst«. Donald Judd meinte sinngemäß: Wenn ich ein Gebäude plane, bin ich Architekt, wenn ich Möbel entwerfe, Designer, wenn ich Skulpturen mache, Bildhauer bzw. Künstler. Eine in ihrer Apodiktik scheinbar zweifelhafte Aussage, wenn man die Verzahnung, das Ineinandergreifen der Disziplinen, die Durchgängigkeit formaler Gestaltungsprinzipien, bzw. deren Übertragbarkeit auf verschiedene Medien gerade bei diesem Künstler verfolgt. Sie klärt sich aber an anderen Stellen, wenn Judd die Funktion, oder besser, ein umfassendes Verständnis von Funktionalität als einziges und wesentliches Unterscheidungsmerkmal von Kunst und Architektur definiert, und eine nichthierarchische Beziehung der Disziplinen fordert. Judd meinte überdies dazu: »Die Funktion zu berücksichtigen macht Spaß, die Kreativität wird dadurch nicht eingeschränkt, diese Besonderheit ist keine Plage, sondern die Quelle guter Architektur.«

Je nach Betrachtungsweise interessant oder auch amüsant ist die Emotionalität, mit der von beiden Seiten die Kategorie Kunst beansprucht oder beeinsprucht wird. Es ist vor allem der Bereich des Museumsbaus, bei dem offensichtliche Interessensgegensätze und Auffasssungsunterschiede aufeinanderprallen. Während Architekten diese Bauaufgabe als Chance zu Freiräumen sehen, um »künstlerische« Konzepte zu realisieren oder die Disziplin Architektur zu reflektieren, verlangen Künstler als Nutzer verständlicherweise vor allem Funktionalität. Wenn auch kaum jemand mehr glaubt, daß sich Form so eindeutig aus der Funktion entwickeln läßt, kann man doch billigerweise erwarten, daß Form die Funktion nicht geradezu vergewaltigt oder ignoriert. Das Selbstverständnis mancher Architekten ist ebenso erschreckend wie ihr Unverständnis für das Wesen der Kunst. Ja, wir haben heute die geradezu paradoxe Situation, daß vor allem von Seiten der sogenannten freien Künste sowohl gewisse skulpturale Setzungen der Architektur, als auch formalistische Selbstreflexionen dieser Disziplin kritisiert werden.

In den letzten Jahrzehnten sind zahlreiche Zweckbauten von Künstlern, meist Bauten für Kunst, entstanden. Die meisten sind wohl unausgesprochen auch programmatisch als Architekturkritik zu verstehen. Im Hintergrund steht der Erfolg aktueller Architekturtendenzen, die von individualistisch-modischen Formfindungen und leeren Gesten als Ausdruck genialischer Anmaßung gekennzeichnet sind. Die Künstlerbauten, meist von Bildhauern der älteren Generation wie Judd, Heerich, Walther etc., entworfen, zeigen in der Regel Architektur als Einheit von Material, Konstruktion, Proportion und Funktion. Rationale Durchdringung, formale Logik und ein puristisch-minimalistischer Ausdruck auf der Basis eines hohen moralischen, ja politisch-sozialen Anspruchs ist kennzeichnend für ihre künstlerischen und architektonischen Arbeiten. Das gilt interessanterweise auch für viele Konzept- und Kontextkünstler, der meist jüngeren Generation, die zwar kaum Bauten vorzuweisen haben, aber mit Vorliebe Gelegenheiten im Ausstellungswesen nützen, um architektonische und innenarchitektonische Statements zu realisieren, als Kritik an der Realität, um Alternativen anzubieten und um Grenzen und Überschneidungen der Disziplinen Kunst und Architektur auszuloten. Es ist verblüffend, daß sie dabei, obwohl einem ganz anderen Denkansatz verpflichtet, dem keine systematische, bildhauerisch-morphologische Grundlagenforschung vorangegangen ist, zu sehr ähnlichen puristischen und funktionellen Ergebnissen kommen — von Acconci bis Zobernig. Oliver Kruse steht in diesem Spektrum mit seiner Architektur einerseits in der Tradition der klassischen Bildhauerei, andererseits ist seine Arbeit generationsbedingt hybrider und pragmatischer. Als handwerklich ausgebildeter Bildhauer gestaltet er Ausstellungen und entwirft Möbel und Bauten, deren Realisierung er immer seinen architektonischen Gestaltbegriff zu Grunde legt. Ob es sich um Kunst handelt, wird durch Funktion und Kontext bestimmt. Die Frage nach der Kunst ist keineswegs bedeutungslos geworden. Aber für Kruses Generation, für deren Arbeit ein interdisziplinäres Cross-over signifikant ist, wurde sie enthierarchisiert und daher entemotionalisiert. Kruses »Kinder Insel Hombroich« ist Teil der »Museuminsel Hombroich«. Es handelt sich also um einen insgesamt besonders anspruchsvollen Kontext für eine Bauaufgabe, die zwar zu den schwierigen und verantwortungsvollen, aber nicht zu den spektakulären und prestigeträchtigen zählt. Kruse, Schüler Erwin Heerichs, seit den Anfängen des Hombroich-Projekts als Mitarbeiter involviert und heute im Vorstand der »Stiftung Insel Hombroich« war einerseits zum Planer dieses Kindergartens prädestiniert, anderseits dadurch besonders herausgefordert. Galt es doch in dieser Aufgabenstellung nicht nur, sich in ein von Heerich geprägtes Ensemble von Bauten einzufügen, sondern auch der an diesem Ort praktizierten Idee eines neuen Verhältnisses von Kunst und Natur, von Kunst und Leben, inhaltlich und formal gerecht zu werden.

Einen Kindergarten in einen Kulturkomplex zu integrieren, entspricht der idealistisch-erzieherischen Gesamtidee von Hombroich. Schon der kleine Mensch soll, weil in seiner bildsamsten Phase, oder besser im Stadium größter unverbildeter Aufnahmefähigkeit, der Naturwelt und der Parallelwelt der Kunst ausgesetzt werden. So wie die Bauten und Werke von Hombroich das Publikum nicht aufdringlich belehren, sondern ihm lediglich Angebote zur Kontemplation machen und ihm die Möglichkeit zur Erkenntnis geben — In festem Glauben an die sinnstiftende Kraft der Kunst und die reinigende Kraft der Natur — so werden auch die Kinder weniger belehrt, als viel mehr ernst genommen. Ein pädagogisches Konzept dieser Art vertraut vor allem auf deren Selbstbildungskraft, statt ihnen vorgefertigte zivilisatorische Bildungs- und Verbildungsangebote vorzusetzen. Versucht man Schlußfolgerungen aus einem solchen pädagogischen Ansatz zu ziehen — das heißt zu definieren, wie Architektur beschaffen sein soll, die diesem Anspruch genügt — ergeben sich Kriterien, die auch für Kruses autonome künstlerische Arbeit grundlegend sind: Einheit von Material, Konstruktion und Proportion, formale Logik bzw. Nachvollziehbarkeit des Gestaltungsprozesses, eine Sprache der Architektur, die kommunikativ und deshalb sozial ist. Das alles läuft darauf hinaus, individuelle Entscheidungen zu minimieren oder zumindest rationalen Strukturen unterzuordnen. Selbstredend entsteht gute Architektur nicht aus der Anwendung eines Systems, sei es einfach oder komplex. An ihrer Wiege steht eine Vision von Ort, von Raum und Gebäude, von Klima und Wetter, von Menschen, die dort leben, arbeiten, erziehen oder erzogen werden, eine Vorstellung von kommunikativen Prozessen, von Zeit und Vergänglichkeit etc. Die Materialisierung dieser Vision ist vom kulturellen Kontext und von Werthaltungen bestimmt. Ausdruck einer bestimmten Werthaltung sind strukturelle Kunst und strukturelle Architektur. Ihr Bestreben ist, aus humanen Erwägungen Gestaltungsprozesse zu objektivieren, transparent und kommunizierbar, verständlicher zu machen. Übergeordnete Ordnungsprinzipien treten an die Stelle subjektiver Komposition. Für das vergangene Jahrhundert signifikant ist die verstärkte Selbstreflexion der verschiedenen Disziplinen, als Folge der Diversifizierung und Spezialisierung aller Lebensbereiche und des Verlustes eines allgemeingültigen Weltbildes. Es ist einsichtig, daß Bildhauer und Architekten, deren Themen Körper und Raum sind, durch Selbstreflexion zu verwandten Ergebnissen gelangen, sobald sie im einen Fall das mimetische, im anderen das funktionale Prinzip zugunsten autonomer Raumbildung hintanstellen und Fragen nach den Eigengesetzlichkeiten ihres jeweiligen Mediums aufwerfen. Oliver Kruses Kinderinsel ist in diesem Sinne ein im höchsten Maß selbstreflexives Gebäude. Seine methodische Vorgangsweise, die aus durchgebildeten Flächen Räume entwickelt, ist eine Referenz an seinen Lehrer Erwin Heerich. Er weiß diesem aber, ausgehend von einem gleichen Gestaltbegriff, eine durchaus eigenständige architektonische Vorstellung entgegenzusetzen, nicht nur funktions- und materialbedingt. Seine Architektur ist auch leichter, komplexer, offener, dynamischer, mit einer stärkeren Verschränkung von Innen- und Außenraum. Für Kruses Vorstellung ist maßgeblich, daß er die Zusammenhänge von Maß Proportion und Materialität, die im expliziten Fläche-Raum Beziehungsgefüge der Heerichschen Museumspavillons zum Ausdruck gebracht werden, durch das Element der Konstruktion erweitert. Dadurch arbeitet er Proportionszusammenhänge noch schärfer und lesbarer heraus. Die klare Fugenbildung zwischen der Skelettkonstruktion aus Leimbindern und den ausfachenden, genormten Dreischichtplatten aus Douglasie erlauben dem aufmerksamen Betrachter, die Maße der wand- und raumbildenden Elemente 6×9, 3x 6, 3x 3 bzw. die weiterführenden Teilungen mühelos abzulesen.

Interessant ist, daß Leimbinder und Ausfachung in einer Ebene abschließen, alle Verbindungen des Skeletts verdeckt sind, und sogar die Schraublöcher in den Platten geschlossen wurden. Hier äußert sich wieder der Bildhauer Kruse, dem Geschlossenheit und Ruhe der Flächen und Volumen, also Skulpturalität, wichtiger sind, als eine sogenannte »ehrliche« Offenlegung der Feinkonstruktion. Die, in jeder Innen- und Außenansicht bzw. Blickrichtung zu Tage tretende systematische Struktur läßt den jetzt sensibilisierten Rezipienten nach dem Aufbauprinzip des Gesamtvolumens fragen, das sich allerdings nur nach intensiver Beschäftigung mit dem Gebäude und mehreren Durch- und Umgängen erschließt, obwohl es sehr einfach ist. Zwei versetzte Quader von 9x6x6 m sind mit einem haushohen, verglasten Fugenstück verbunden. Dieser Zwischenraum ist dem zweigeschossigen, offenen Körper (Aufenthaltsraum, freistehende Küche, Ruheraum) zugeordnet, der zweite Körper nimmt alle übrigen Funktionen eines Kindergartens (Garderobe, Waschräume, Verwaltung, Schlafraum) in zwei Etagen wahr. Auf dieser einfachen Konfiguration sitzt ein, aus zwei gegeneinander gekippten, weit überstehenden Pultdächern zusammengesetztes Dach frei auf. Die beiden Dachteile sind über dem inneren Fugenelement so ineinander verzahnt, daß sich dieses auch außen abbildet. Die Pultdächer schützen zudem die durch Versetzen entstandenen Freibereiche und lassen diese als Einschnitte in einem gedachten Kubus erscheinen. Erst jetzt bildet sich aus den einfach angelegten Grundrißformen des Gebäudes und des Daches ein komplexes und raffiniertes Gefüge von räumlichen Beziehungen. Nicht nur die Gliederung der HüllenflaÅNchen, sondern auch die funktionelle Feingliederung aller Raumeinheiten bleibt konsequent in den Maßverhältnissen 3: 6: 9 und deren halben Teilungen. Das Gebäude des Bildhauers ist insgesamt eine faszinierende Demonstration rationaler Gestaltung und formaler Disziplin, ohne aber den Eindruck von forciertem Autonomiestreben auf architektonischer oder skulpturaler Ebene zu erwecken. Mit einer (wohl nur scheinbaren) Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit gelingt es, ein spannungsvolles und komplexes Gefüge räumlicher Durchdringungen und Lichtstimmungen zu schaffen, indem höchste künstlerische und funktionelle Ansprüche zugleich erfüllt werden. Die »Kinder Insel Hombroich« ist künstlerisch und erzieherisch ein Projekt ohne erhobenen Zeigefinger, das eine offene aber geordnete Struktur für freies Denken und Handeln, für die Entwicklung der kindlichen Seele anbietet, einen Ort des geschützten Rückzugs, des weiten Ausblicks und des Aufbruchs. Sie ist Architektur, die auf architektonische Bilder verzichtet, auch auf das des Archetypus, denn dazu sind die Funktionen zu komplex, aus denen Kruse Räume entwickelt. Wie sagte doch Donald Judd: »Die Funktion zu berücksichtigen macht Spaß.« Offensichtlich hat es auch Oliver Kruse Spaß gemacht.