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Über den Kindergarten auf der Insel Hombroich von WILFRIED WANG, Kat. Oliver Kruse, Kinder Insel Hombroich, Köln 2000

Im Bewußtsein der sich ständig verändernden Umstände, seien sie natürlicher oder künstlicher Art, drückt sich der Wunsch unserer zwiegespaltenen Zivilisation nach Permanenz einerseits und Aktualität andererseits aus. Und es sind vielleicht diese fundamentalen Beweggründe, die auch die Gestaltung einer anscheinend unwesentlichen Bauaufgabe eines Kindergartens bestimmen. Im Kontext der Insel Hombroich in der Nähe der Stadt Neuss ist es allerdings erlaubt, derartige Beweggründe zu erwähnen. Es handelt sich dabei um zwei anscheinend gegenläufige Bestrebungen, die dennoch vereint zu einem in sich geschlossenen, aber intern dynamischen Kunstwerk finden.

Die Stiftung Insel Hombroich, der nunmehr zwei Areale für die Ausstellung und Aufführung von Kunstwerken zur Verfügung stehen — der ursprünglichen »Insel«, einer bukolischen Erftlandschaft mit sechzehn Bauten, die meisten von dem Bildhauer Erwin Heerich gestaltet, und der neu dazu gekommenen »Raketenstation«, einer ausgedienten NATO Abschußbasis, die durch allmählichen Ausbau (auch zum großen Teil mit Bauten nach den Entwürfen von Heerich) zum gleichberechtigten Teil der Kunstaktivitäten der Stiftung geworden ist — hat sich nunmehr über eine Entwicklungsphase von fast zwei Jahrzehnten zu einem Zentrum der internationalen Kultur und Wissenschaft entwickelt.

Die Gründung der Stiftung Insel Hombroich geht auf eine Initiative einer Gruppe von Kunstsammlern, Künstlern und Kunstinteressierten am Anfang der 80er Jahre zurück, der Karl-Heinrich Müller als Initiator vorsteht. Entstanden ist eine ungewöhnliche Lebensgemeinschaft, die der sonst ausgelaugten, versprengten Region von ehemaligen Kohleberg- und Stahlwerken eine erneute Daseinsberechtigung gegeben hat. Jeder Besucher der Insel verspürt die Gegensätzlichkeit zwischen der umliegenden Industriebrachentopographie und der wörtlichen wie gedanklichen Erftaueninsel.

Entspricht die Erftlandschaft im allgemeinen der mittlerweile klassischen Vorstellung einer Symbiose von Natur und menschlicher Nutzung und in ihrer speziellen Gestaltung einer Synthese aus malerischer Landschaftsgestaltung mit wenigen französisch-rationalistischen Einsprengseln, so ist die ehemalige Raketenstation ein noch spürbar unter die Haut gehendes Symbol des Kalten Krieges und des angelsächsischen Rationalismus. Das die unmittelbar aufeinanderstoßenden Tätigkeiten wie die dem Boden verhaftete Agrikultur und das über dem Luftraum agierende Abwehrsystem wie zwei autistische Nachbarn erscheinen läßt. Hier ein unzeitgemäßes und paradiesisches Fleckchen Muttererde, dort bislang ein buchhalterisches und globalstrategisches Flurstück parva aesthetica — ohne Leitbild. In diesem Nebeneinander vermeintlich nicht zusammengehörender Landstriche haben die vielfältigen kulturellen Aktivitäten eine lokale und regionale Gemeinschaft hervorgebracht, deren stetes Wachsen die eigentliche Kultivierung des Territoriums darstellt.

Im Zentrum der Stiftung Insel Hombroich steht die Kunstsammlung. Der beachtlichen zeitgenössischen europäischen Kunst werden archäologische Funde aus Ban-Chiang, Mesopotamien und Amlasch gegenübergestellt. Darüber hinaus erlaubt die Einbeziehung der zahlreichen kunsthandwerklichen Objekte der Khmer, aus der Han und Tang Dynastie, sowie der Kultgegenstände aus Afrika und Ozeanien in den Ausstellungsräumen Querverbindungen zur westlichen Kunst.

Das Konzept des Gegenüberstellens von Objekten, die üblicherweise durch Genre- oder Kulturkreisgrenzen getrennt werden, greift auch in die Anordnung der Ausstellungs-, Wohn- und Atelierbauten über. Des weiteren, gleichsam zeitlich der bildenden Kunst dazwischengestellt, sind Konzerte, Lesungen und das sommerliche Festival.

Die Kunstsammlung, die Ateliers, Labore, Konzerte und Lesungen, die kleinen und großen Festmahle, und allem voran die Begegnung mit der Landschaft, haben einen Zyklus von Benutzern, Besuchern und Bewohnern ins Leben gerufen, welcher nun seinerseits neue Benutzer und Bewohner gezeitigt hat.

Im Oktober 1999 entstand nach fünfeinhalb Monaten Bauzeit eine Kinder Insel am westlichen Rand der Museumsinsel. Sie ist als Tagesstätte für etwa zwanzig Kindern gedacht. Von hier aus können die umliegende Natur und die Sammlung erkundet werden. Das von Gotthard Graubner geprägte Konzept von Kunst parallel zur Natur kann somit auch von den jüngsten der Benutzer und Besucher erfahren werden.

Oliver Kruse, Bildhauer und Gestalter des Kindergartens, hatte bereits mit Katsuhito Nishikawa 1995 auf der Raketenstation das one-man house (Gästehaus) geplant und gebaut. Als einzelliges Bauwerk mit Badezimmer und Veranda nimmt dieses Gästehaus die knappe Detailsprache, die konstruktiv-statischen Themen, wie freie Stützen und gesondertes Dach, sowie die klar gegliederten und proportionierten Raumbeziehungen des Kindergartens vorweg.

Besonders wichtig ist das in der Raumbeziehung ausgesprochene Verhältnis von dienenden und bedienenden Räumen. Die Einheit des one-man house wird einerseits durch die alles überspannende Dachmembran unterstrichen, andererseits drückt sich jede Raumeinheit nach Außen hin aus. Ein ständiges Pendeln wird durch das Spiel zwischen drei zu einer Achse, beziehungsweise zwischen der Mitte von vier Achsen und der räumlichen Symmetrie von drei Achsen, gebildet. Dieses Pendeln ist gleichermaßen Ausdruck der Dynamik, die zwischen dem Ideal der Urzelle für eine Person und der Realität der dazugehörenden Nebenräume herrscht. Das one-man house ist sozusagen ein Baukörper, der sich vor der Zellteilung befindet. Für den Kindergarten auf der Insel Hombroich selbst ist eine weitere Zahl an Nebenräumen hinzugekommen, die nunmehr fast gleichberechtigt die Hälfte des Gesamtvolumens beanspruchen. Konzeptionell ist dann auch das Bauwerk als zwei gegeneinander verschobene Baukörper entwickelt worden, über denen, wie beim one-man house, jeweils ein leicht geneigtes, abgehobenes Dach schwebt. Die auf beiden Seiten verglaste Mitte unterstreicht in idealisierter Weise die Identität der beiden Baukörper. Hier befindet sich der Herd, die Küche, also das Herz des Gebäudes. Im Eingangsbreich ist eine große Diele, um die sich eine niedrige L-förmige Bank für die zwanzig Kinder sowie die zweiläufige mit raumhohen Geländerbrettern abgegrenzte Treppe anordnen. Lagerräume und Naßzellen sind von der Diele erreichbar. Sie nehmen ein Drittel des rechteckigen Grundrisses ein, so daß in der Grundrißfigur ein wiederum idealisiertes Quadrat für die Diele und Treppenhalle erscheint. Im Obergeschoß befinden sich das Büro der Kindergärtner und ein Schlafraum, die beide über einen mit raumhohen Geländerbrettern zum darunterliegenden Aufenthaltsraum abgeschirmten Flur erschlossen werden. Die Geländerbretter definieren den Erschließungsweg als relativ eigenständigen Raum und geben den jeweils angrenzenden Bereichen ihre Ruhe. Durch die Abschirmung können Eltern, die auf eine Besprechung mit der Kindergartenleitung warten, ungestört ihre Kinder im Hauptraum beobachten.

Der zweistöckige Hauptraum ist seinerseits unterteilt in Ruhe- und Aktivitätsbereiche. Gerade hier erhält die implizierte Überlagerung von geschlossenem und offenem Baukörper mit Haupt- und Nebenräumen eine Deutungsvielfalt, die von Außen nicht ersichtlich ist. Kruse spielt dabei, in ähnlicher Weise wie schon im one-man house, mit dem Pendeln zwischen statischen und dynamischen Raumgefühlen. Steht man vor dem Haupteingang, so sieht man die vierachsige Fassade als einen dreiachsig geschlossen und einachsig offenen Teil. Das Motiv wiederholt sich rotationssymmetrisch auf der gegenüberliegenden Fassade und ist in ähnlicher Weise im one-man house zu sehen. Die räumliche und baukörperliche Überlagerung im Inneren ist nunmehr eine weitere Art dieses Pendelns. Von der Grunddisposition ausgehend, das heißt, mit Blick auf die beiden geschlossenen, gegeneinander versetzten Baukörper und ihre Dächer, erschließt sich somit eine hochdifferenzierte innere Aufteilung, die raumplanerisch Kontrapunkte bildet. Hier ist ein Haus entstanden, das ganz in der Tradition der Heerich’schen Ausstellungshäuser steht. Vergleicht man den Kindergarten mit Heerichs Turm von 1989, oder gar mit der Hohen Galerie von 1983, — spürt man die Raum- und Formideale, die dem Kindergarten zur Seite gestanden haben. In ihrer Idealität stellen die Ausstellungsräume einen Grad der konzeptionellen Reinheit dar, die verständlicherweise dieser Funktion vorbehalten bleibt.

Gleichwohl sind weitere Parallelen in der Detaillierung der jeweiligen Bauten zu erkennen. Was schon im one-man house zu erkennen war, daß das Grundmaß der Rahmen füllenden Sperrholzplatten das Modul des Bauwerks darstellt — ähnlich dem Backstein als wesentlich kleinerem Modul in den Ausstellungshäusern — wiederholt Kruse mit, visuell beurteilt, größerer Stringenz im Kindergarten. Diese Stringenz resultiert dank der materiellen Übereinstimmung von Rahmen und Füllung im Kindergartenbau. Leimbinder und Dreischichtplatten sind aus Douglasie. Die Maße der Dreischichtplatten geben, ähnlich wie beim one-man house, den Skelettrhythmus vor. Anders als beim one-man house gibt es keine Unterschiede zwischen Innen- und Außenverkleidung. Dadurch verstärkt sich die Wirkung des Homogenen, des anscheinend Einfachen, des Primären. Auch hier sind Parallelen zur Aktualität des Minimalen abzulesen, eines Minimalen des Bildhauers Donald Judd, aber auch einer primären Architektur eines Heinrich Tessenow. Permanenz und Aktualität liegen also bei dem Kindergarten näher beieinander, als sich auf den ersten Blick erschließen läßt. Die unterschiedliche Strukturierung der Oberflächen und die überall eingehaltene Fuge von einem Zentimeter sind subtile Artikulationsmittel, um die jeweiligen konstruktiven Funktionen der Bauelemente hervorzuheben. Kruse kommt damit dem Ideal des durchgehenden Materials nach, das in der Architektur nicht nur der heutigen Zeit eine ausdrucksstarke Rolle spielt. Einerseits huldigt die materielle Einheit dem klaren Raumeindruck, denn je homogener die raumbegrenzenden Oberflächen, desto stärker der resultierende Raumeindruck, andererseits stellt sie eine Art der Selbstdisziplinierung dar, die als intellektuelle Herausforderung anzusehen ist:

Sie beweist die Möglichkeit der Herstellung von unendlich vielen Formen und Räumen durch ein einziges Material, selbst wenn dieses zu anderen tektonischen Elementen verarbeitet wurde (Leimbinder und Platten). Auch dieses Interesse Kruses entspricht einer Suche nach kognitiver Permanenz, die im zeitgenössischen Architektur- und Kunstdiskurs eine führende Rolle spielt.

Schließlich ergibt sich aus der besonderen Lage des Kindergartens, funktionell begründet in der Nähe des privaten Westeingangs, sowohl im Niveau als auch in seiner geographischen Ausrichtung, eine Verzahnung zwischen Baukörpergestus — den beiden gegenseitig versetzten Volumen — und Kontext. Auf der Erftauenseite bildet der terrassierte Rücksprung eine wichtige Ecke zur Gesamtanlage, sie bietet eine Art der Geborgenheit im architektonischen wie im psychologischen Sinn hin zur bukolisch idealen Landschaft. Dagegen blickt man auf der zur Grundstücksgrenze gewandten Seite von der Empore der Fluchttreppe erst über den topographischen Sprung hin auf die Landstraße und die dahinterliegende Raketenstation, auf die rauhe Realität. Bildet der Kindergarten im Inneren eine bipolare Welt des Bedienten und Dienenden, so vermittelt er im kontextuellen Sinn zwischen Kunstlandschaft und rationalistischer Wirklichkeit. Keine dieser beiden zeitgleichen Welten wird im Kindergarten ausgeblendet, alles strömt hier hinein, ob Kinder, Erwachsene, Licht, Regen, Wind, die rauhe Wirklichkeit wie die samtene Utopie, die dort heißt Insel Hombroich.